Sicherheitshaft im selbständigen Massnahmeverfahren

Ausgangslage

Das Bundesgericht hatte im Urteil 1B_270/2017 vom 28. Juli 2017 folgenden Fall zu prüfen: Der Beschwerdeführer war 2010 erstinstanzliche bzw. 2011 obergerichtlich zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe sowie einer stationären Massnahme nach Art. 59 StGB verurteilt worden. Die Freiheitsstrafe wurde zugunsten der Massnahme aufgeschoben. Im Juni 2016 beantragte das JuV die Verlängerung der stationären Massnahme um drei Jahre. Das Bezirksgericht versetzte den Beschwerdeführer im Hinblick auf das gerichtliche Nachverfahren in Sicherheitshaft. Im Januar 2017 ordnete das Bezirksgericht erneut eine stationäre Massnahme an, wogegen der Beschwerdeführer Berufung erhob. Mit separatem Beschluss vom 26. Januar 2017 verfügte das Bezirksgericht, dass der Beschwerdeführer bis zum möglichen Massnahmenantritt, längstens bis zum 26. April 2017, in Sicherheitshaft verbleibe.

Am 9. Juni 2017 ersuchte der Beschwerdeführer um sofortige Haftentlassung. Er machte insbesondere geltend, dass die vom Bezirksgericht (bis längstens 26. April 2017) festgesetzte Haftfrist abgelaufen sei. Mit Verfügung vom 12. Juni 2017 wies das Obergericht des Kantons Zürich das Haftentlassungsgesuch ab. Gleichzeitig ordnete der Kammerpräsident die Fortsetzung der Sicherheitshaft für die Dauer des hängigen Nachverfahrens an.

Im bundesgerichtlichen Verfahren beantragte der Beschwerdeführer u.a. die sofortige Haftentlassung und die gerichtliche Feststellung, wonach er von widerrechtlicher Haft betroffen worden sei. 

Fehlende gesetzliche Grundlage?

Strittig war im vorliegenden Verfahren unter anderem die prozessuale Grundlage für die Anordnung von Sicherheitshaft. Denn: In den Bestimmungen zum selbständigen nachträglichen Massnahmeverfahren (Art. 363-365 StPO) sind keine eigenständigen Normen zum Haftrecht enthalten. Auch ein Verweis auf die Bestimmungen von Art. 229 ff. fehlt. 

Das Bundesgericht erkennt zwar, dass "die StPO keine spezifischen, auf das gerichtliche Nachverfahren (Art. 363-365 StPO) zugeschnittenen Bestimmungen zur Sicherheitshaft enthält. Das Bundesgericht hat bereits in mehreren publizierten Urteilen darauf hingewiesen, und  de lege ferenda wären detailliertere systemkohärente Regeln aus Gründen der Rechtssicherheit durchaus zu wünschen." 

"Anderseits hat das Bundesgericht schon mehrfach bestätigt, dass die (analog anwendbaren) Bestimmungen von Art. 229-233 i.V.m. Art. 221 und Art. 220 Abs. 2 StPO de lege lata noch eine ausreichende gesetzliche Grundlage für die Anordnung und Fortsetzung von strafprozessualer Sicherheitshaft im Nachverfahren bilden (BGE 139 IV 175 E. 1.1-1.2 S. 178; 137 IV 333 E. 2.2-2.3 S. 336-338; Urteile 1B_490/2016 vom 24. Januar 2017 E. 2; 1B_371/2016 vom 11. November 2016 E. 4-5; je mit Hinweisen)."

Haft ohne Hafttitel... weitgehend folgenlos

Das Bundesgericht stellte fest, dass der Beschwerdeführer zwischen dem 26. April und dem 11. Juni 2017 ohne gültigen Hafttitel inhaftiert war. "Mangels eines gültigen strafprozessualen Hafttitels ist die Inhaftierung des Beschwerdeführers zwischen dem 27. April und dem 12. Juni 2017 als formell rechtswidrig zu qualifizieren. Die Unrechtmässigkeit von erstandener Haft ist in der Regel im Dispositiv des Haftprüfungsentscheides festzustellen." So weit so gut. Doch was sind die Folgen des fehlenden Hafttitels?

"Das vorübergehende Fehlen eines Hafttitels im gerichtlichen Nachverfahren führt demgegenüber nicht zwingend zur ebenfalls beantragten Haftentlassung: Zwar kann der Ablauf von richterlichen Haftfristen bei Untersuchungs- und Sicherheitshaft im Vor- und Hauptverfahren einen Haftentlassungsgrund bilden."

Aber: "Dabei ist auch die Unschuldsvermutung zugunsten von strafprozessual Inhaftierten (vor einer allfälligen rechtskräftigen Verurteilung) zu berücksichtigen (Art. 10 Abs. 1 StPO). Im vorliegenden Fall geht es jedoch um Sicherheitshaft im massnahmenrechtlichen Nachverfahren gegenüber einem rechtskräftig Verurteilten (Art. 363-365 StPO). Zwar hat es das Obergericht versäumt, vor Ablauf der durch das Bezirksgericht festgelegten Haftfrist die Sicherheitshaft förmlich zu verlängern. Vor und nach dieser (vorübergehend formell unrechtmässigen) Inhaftierungsphase haben die zuständigen Haftgerichte die materiellen Haftgründe jedoch mehrmals geprüft und als erfüllt erachtet. Bei dieser Sachlage drängt sich hier von Bundesrechts wegen keine Haftentlassung allein aufgrund des festgestellten Verfahrensfehlers auf. Dabei ist auch dem Anliegen einer effizienten Gefahrenabwehr (Wiederholungsgefahr bei bereits verübten schweren Sexualstraftaten) Rechnung zu tragen (vgl. BGE 143 IV 9 E. 2 S. 11-17; für das Nachverfahren s.a. Urteil 1B_490/2016 vom 24. Januar 2017 E. 4.3)."

Was das Bundesgericht hier macht, ist, den Vorrang von "Anliegen" über die Geltung des vom Gesetzgeber erlassenen Rechts zu stellen (Art. 197 StPO, Art. 221 bzw. 229 StPO, Art. 10 BV, Art. 36 BV). Soweit es also um "Anliegen der effizienten Gefahrenabwehr" (scil. vermeintliche Sicherheit einer diffusen Personengruppe) geht, sind die zum Schutz des konkreten Individuums aufgestellten Bestimmungen (StPO) weitgehend irrelevant. Lieber entschädigen, als freilassen.