Untersuchungshaft – Ein Leitfaden für die Praxis

Das Buch "Die Untersuchungshaft - Ein Leitfaden für die Praxis" richtet sich an alle mit dem Thema betrauten Akteure: Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Gericht. Nebst der Darstellung der besonderen Haftgründe ( Fluchtgefahr, Kollusionsgefahr und Wiederholungs- resp. Ausführungsgefahr) beschreibt es ausführlich und doch praxisnah den Prozess der Verdachtsgewinnung. Gesondert behandelt werden zudem das Verfahren sowie die Ersatzmassnahmen.



Kritik und Ergänzungen

Es ist uns bewusst, dass nicht jede Zeile unseres Buches auf uneingeschränkte Zustimmung stossen wird. Dies liegt zum einen schon in der Natur der juristischen "Wissenschaft" und zum anderen auch am Thema. Wir würden uns wünschen, wenn Sie - liebe Leser - uns Ihre Überlegungen zukommen lassen. Nur so kann ein Diskurs entstehen, der letzten Endes zu einem besseren Verständnis führt. Meinungen, Kritik und Anregungen nehmen wir gerne auf der speziell dafür eingerichteten Adresse entgegen info(at)u-haft.ch 

Bereits am Tag der Veröffentlichung wird das Buch naturgemäss bereits veraltet sein. Aus diesem Grund beabsichtigen wir mit dem Blog möglichst aktuell zu bleiben. 

 
 

Vorwort von Prof. Dr. Marcel Alexander Niggli

Im Strafprozessrecht nehmen die Zwangsmassnahmen eine ebenso zentrale Stellung ein wie unter den Zwangsmassnahmen die Untersuchungshaft. Kaum hatte ich diesen einfachen Satz geschrieben, erkannte ich, dass man das so nicht bzw. nicht mehr sagen kann. Nicht weil an der Kernaussage «Strafprozessrecht – Zwangsmassnahmen – Untersuchungshaft» etwas auszusetzen wäre, sondern vielmehr deshalb, weil gar nicht mehr klar ist, was der Satz heissen könnte. Auch ohne die ständige Änderung der Strafprozessordnung durch die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu berücksichtigen (und um eigentliche Änderungen handelt es sich, nicht bloss um Auslegung), birgt schon das Gesetz selbst beträchtliche Inkonsistenzen.

Art. 196 StPO etwa definiert als Zwangsmassnahmen alle Verfahrenshandlungen von Strafbehörden, die in Grundrechte der Betroffenen eingreifen und dazu dienen, entweder (1) Beweise zu sichern, oder (2) die Anwesenheit von Personen im Verfahren sicherzustellen, oder schliesslich (3) die Vollstreckung des Endentscheides zu gewährleisten. Nach dem Text der Norm scheint diese Aufzählung abschliessend, und zwar in allen drei Sprachen. Liest man demgegenüber Art. 221 StPO, der die Voraussetzungen der Haft regelt, so steht da, dass Untersuchungs- und Sicherheitshaft nur zulässig sind wenn einerseits ein dringender Verdacht eines Vergehens oder Verbrechens besteht, und andererseits alternativ eine von drei weiteren Bedingungen, namentlich (1) Fluchtgefahr, (2) Verdunkelungsgefahr oder (3) Wiederholungsgefahr, wenn also ernsthaft zu befürchten ist, dass die beschuldigte Person „durch schwere Verbrechen oder Vergehen die Sicherheit anderer erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher gleichartige Straftaten verübt hat“. In Abs. 2 wird dann Abs. 1 lit. c nochmals dahingehend erweitert, dass nicht Wiederholungs-, sondern blosse Ausführungsgefahr ausreicht, namentlich „wenn ernsthaft zu befürchten ist, eine Person werde ihre Drohung, ein schweres Verbrechen auszuführen, wahrmachen“. Art. 221 Abs. 1 lit. c und Abs. 2 StPO dienen nun aber offensichtlich weder der Beweissicherung, noch der Gewährleistung der Anwesenheit des Beschuldigten, noch der Vollstreckung eines Endentscheides, der ja noch in weiter Ferne liegt.

Sofern nun aber Wiederholungs- und Ausführungsgefahr deutlich erkennbar den von Art. 196 StPOstatuierten Zwecken gerade nicht dienen oder dienen können, kann es sich damit auch nicht um Zwangsmassnahmen handeln. Wozu nämlich eine Legaldefinition gut sein könnte, an die sich das Gesetz selbst nicht hält, muss völlig offenbleiben. Nimmt man entsprechend die Legaldefinition in Art. 196 StPO ernst, und eigentlich sollte man das Gesetz immer sehr ernst nehmen, so scheint ganz eindeutig, dass Haft aus Gründen von Wiederholungs- oder Ausführungsgefahr jedenfalls keine Zwangsmassnahme i.S.v. Art. 196 StPOist. Es bleibt allerdings gänzlich unklar, was sie denn anderes sein könnte als eben eine Zwangsmassnahme.

Sicher ist einzig, dass sie ganz offensichtlich nicht dem Strafverfahren dient, sondern der Kriminalprävention. Richtet sich aber ein Eingriff in Grundrechte nicht retrospektiv auf die Aufarbeitung begangenen Unrechts, sondern prospektiv auf die Verhinderung zukünftigen, also überhaupt noch nicht verwirklichten Unrechts, dann müssten logischerweise die Bedingungen solcher Grundrechtseingriffe andere sein. Besteht nämlich bei Flucht- und Verdunkelungsgefahr Gewissheit über ein Delikt, aber noch Unklarheit über die Täterschaft, ist es bei Wiederholungs- und Ausführungsgefahr gerade umgekehrt, hier besteht Gewissheit über die Person, aber Unklarheit über das zukünftige Delikt, das noch nicht Wirklichkeit, sondern blosse Möglichkeit ist. Während wir nämlich im einen Fall bestehende Zweifel bezüglich der Täterschaft des Beschuldigten selbständig durch unsere Untersuchung ausräumen können, ist uns dies im anderen Fall gerade nicht möglich, denn ob eine beschuldigte Person zukünftig ein bestimmtes Verhalten an den Tag legen wird oder nicht, obliegt der Entscheidung dieser Person und nicht uns. Ein Verdacht kann in diesen Fällen entsprechend kein von Art. 197 Abs. 1 lit. b StPO für Zwangsmassnahmen verlangter Tatverdacht sein, also ein Verdacht auf vergangenes Fehlverhalten, sondern ein Verdacht gegen eine Person, die dann aber nicht tatverdächtig, sondern einfach als Person verdächtig ist. Wenn es um blosse Möglichkeiten zukünftigen Verhaltens geht, können wir höchstens sämtliche Handlungen dieser Person einschränken. Diese Einschränkung führt aber über die Zeit gerade nicht zur Ausräumung bestehender Zweifel. Resultat wäre deshalb, dass Haft aus Gründen der Wiederholungs- oder Ausführungsgefahr zwar eine Zwangsmassnahme darstellt, denn was anderes sollte sie sein, aber eben keine i.S.v. Art. 196 StPO, sondern eine, die anderen Zwecken dient und deren Begründung entsprechend anderen Regeln folgen muss.

Leider sind gerade im Bereich des Strafprozessrechts, und wiederum ganz besonders bei der Untersuchungshaft weder internationale Verpflichtungen, noch die Rechtsprechung wirkliche Hilfen, sondern eher zusätzliche Lasten. Das hat vor langer Zeit bereits damit begonnen, dass die EMRK die Entscheidung über die Verhängung der Untersuchungshaft nicht der Strafverfolgung überlassen, sondern einer unabhängigen Instanz zugewiesen wissen will, was der Schweiz kurz nach der Unterzeichnung der EMRK mehrere Verurteilungen eingetragen hat, weil die kantonalen Strafprozessordnungen dies nicht so vorsahen. Ziel der EMRK-Regelung war und ist, dass Entscheidungen über derart schwere Grundrechtseingriffe fairer, d.h. ausgewogener und neutraler würden. Die Hoffnung war natürlich, dass die Verhängung von Untersuchungshaft deutlich schwieriger würde, wenn sie durch einen unabhängigen Haftrichter bzw. ein unabhängiges Zwangsmassnahmengericht erfolgt. Tatsache ist, dass diese Hoffnungen auf der ganzen Linie enttäuscht wurden. Die Aufteilung der Verantwortung über den Grundrechtseingriff in zwei Funktionen, einerseits eine Instanz, welche die Haft beantragt, andererseits eine, die über den Antrag entscheidet, hat – wie immer, wenn Verantwortung aufgeteilt wird – zu einer allgemeinen Verantwortungslosigkeit geführt, weil die beantragende Staatsanwaltschaft letztlich eben nur den Antrag stellt, das über den Antrag entscheidende Gericht aber von diesem Antrag nicht ohne Not abweicht, sodass heute die Verhängung von Untersuchungshaft wesentlich leichter, einfacher und häufiger ist, als vor der Einwirkung der EMRK.

Schliesslich hilft uns auch die nationale Rechtsprechung nicht weiter, weil das Bundesgericht bzw. seine erste öffentlich-rechtliche Abteilung, die ja mit 5 Jahren noch sehr junge Strafprozessordnung wiederholt und beinahe schon systematisch contra legem auslegt. Art. 222 StPO sagt, dass „die verhaftete Person“ Entscheide über Anordnung, Verlängerung und Aufhebung von Untersuchungs- und Sicherheitshaft anfechten kann. Bereits am 17. Februar 2011, also einen guten Monat nach Inkrafttreten der StPO, entschied das Bundesgericht in BGE 137 IV 22, dass der Terminus „die verhaftete Person“ (franz. „le détenu“, ital. „il carcerato“) nicht nur diejenige Person meine, die in Haft ist, sondern – von allen Möglichkeiten ausgerechnet – auch diejenigen, die sie dahin gebracht haben.

Ganz unabhängig davon, welchen Auslegungsmethoden man anhängt, welchem Text- oder Rechtsverständnis, eine derartige Lesart muss unüberwindlichen Schwierigkeiten begegnen. Auch wenn wir davon ausgehen, dass ein Begriff keinen festen Bedeutungsgehalt aufweist, kann ein Verständnis, das die Bezeichnung für denjenigen, der einen Grundrechtseingriff erdulden muss, vieles – und vielleicht sogar alles – meinen, aber sicher nicht diejenigen, die diesen Eingriff verlangen. In einem Strafverfahren stehen sich Anklage und Verteidigung gegenüber. Jede Lesart, die diese Rollenverteilung aufweicht, weicht den Prozess als Ganzes auf. Wo „die verhaftete Person“ auch diejenigen meint, die sie verhaften, wo also essentiellste Unterscheidungen aufgehoben werden, wird letztlich auch der Unterschied zwischen Aktiv und Passiv, Zufügen und Erleiden, zwischen Behandelndem und Behandeltem, Täter und Opfer aufgehoben. Wird derselbe Begriff jeweils für beide Seiten der jeweiligen Unterscheidung verwendet, so wird er bedeutungslos und damit obsolet. Inwiefern das eine gute Justizverwaltung („bonne administration de la justice“) darstellen könnte, ist zumindest mir völlig unverständlich.

Der Probleme sind hier mithin derart viele, dass die Untersuchungshaft rechtlich quasi ein einziges grosses Minenfeld ist, das nur deshalb von einer breiteren Öffentlichkeit nicht bemerkt wird, weil die Gerichte die Haftanträge zuhauf durchwinken.

Letztlich läuft – wie fast immer – alles darauf hinaus, was wir wollen. Strafprozessrecht entstand einst als Regelwerk, das sicherstellen sollte, dass kein Unschuldiger verfolgt und bestraft werde. Es scheint fast, als sei es zum Instrument mutiert, das sicherstellen soll, dass kein Schuldiger freikomme. Wenn das aber zutreffen sollte, so stellt der Strafprozess für die Unschuldigen, also letztlich für uns alle oder doch die ganz grosse, überwiegende Mehrheit, eine handfeste Bedrohung dar, der man eben gerade nicht dadurch entkommen kann, dass man unschuldig ist. Unschuld alleine, so scheint es fast, reicht heutzutage nicht mehr aus.

 

Wie schön, dass uns allen in dieser misslichen Lage kompetenter Beistand erwächst durch die Autoren und ihr Werk!

 

Prof. Dr. Marcel Alexander Niggli

Lehrstuhl für Strafrecht und Rechtsphilosophie

Universität Freiburg